Unsicher setze ich meine Schritte. Der
Boden ist zwar eben, doch ich habe noch wenig Erfahrung für solche
Märsche. Wird es noch ein langer Anstieg werden, oder kommen wir
bald an? Um diese Frage zu beantworten, müsste ich den Blick nach
oben richten.
Ich gehe mit gesenktem Kopf, um nicht
die Höhe der Berge zu sehen, die noch zu erklimmen sind. Doch der
Kommandeur fordert uns ständig auf, hebt den Kopf, sonst seht ihr
den Feind im Hinterhalt nicht und er wird euch töten. Und ich hebe
wieder den Kopf. Nach sechs Stunden kommen wir am höchsten Punkt des
Berges an. Was ich sehe beeindruckt mich stark. Es ist wunderbar. Nur
wir, mitten in der Wildnis, die wir nun alle bewundern können.
Der Himmel ist sauber, wie gerade
gewaschen, über uns ein wirkliches Himmelblau. Das Weiß ist
perfekt. Ich habe den Eindruck, den Himmel mit den Händen fassen zu
können. Wir saugen die reine Luft in unsere Lungen auf. Und ich
vergesse, dass ich noch vor wenigen Minuten vollkommen fertig war,
vergesse die am Körper klebende schweißnasse Kleidung. Auch die
Schürfungen auf meinem Rücken, die von der Last des Rucksacks
entstanden sind, spielen keine Rolle mehr. Rings um uns ist eine
ausgedehnte grüne Wiesenlandschaft. In der Ferne, zwischen einer
großen Baumgruppe ist ein wasserreicher Fluss zu sehen. Ich vermute,
dass wir dort unser Lager aufschlagen werden. Nach zwei weiteren
Stunden Marsch kommen wir letztendlich dort an.
Der Rucksack mit seinen 20 Kilo Gewicht
steht endlich auf dem Boden. Eine Portion Eis, das wäre jetzt
köstlich, träume ich. – „Antreten!“ Befiehlt der Kommandeur
Oscar.
„Hier werden wir unser Lager
aufbauen“, sagt er und weist an: „Der Trupp von Nancy macht den
Aufbau dort an diesen Bäumen im Norden, der von Monazo dort in
südlicher Richtung, wo die Bäume stehen und…“. – Wir bereiten
das Gelände vor, bauen die Krankenstation, den Verpflegungspunkt,
das Lehrkabinett, und die „chontos“ – wie die Guerilleros zu
den Abtritten sagen. Mit den Macheten bereiten wir das Terrain vor
und schlagen Holz. Nach einer gewissen Zeit ist das Lager fertig. Nun
können wir baden gehen. Mit Scherzen und Lachen stürzen wir uns in
den Fluss und erholen uns nach einem langen und schweren Tag.
Das Abendessen: Reis mit gebratenen
Nudeln, „cancharinas crocantes“ – eine Art Maisfladen, jedoch
gebraten und aus Weizen. Und natürlich heißer Kaffee. Ach, wie
schön ist es für den Guerrillero, essen zu können! Heute haben wie
kein Fleisch. Doch morgen wird es einen schönen Stier geben.
Es ist schon 18.30 Uhr und wir sitzen
nun im Lehrkabinett und warten auf den Beginn der Kulturstunde. Die
Mädchen in ihren sauberen Uniformen, das Haar locker und glänzend,
das Gesicht sorgsam geschminkt. Wir Männer, sauber und gekämmt,
bewundern die Mädchen wegen ihres Schneids und ihrer
Zerbrechlichkeit. Heute Abend treten ein Dichter und zwei Sänger mit
revolutionären Liedern auf. Die Gruppe 3 wird ein Theaterstück
improvisieren.
20 Uhr: Zeit, um schlafen zu gehen.
„Absolute Ruhe!“ Ordnet der Kommandeur an.
Es herrscht fast absolute Ruhe. Nur in
den Unterkünften der Paare ist noch leises Murmeln zu hören. Nun
liege ich auf dem Moskitonetz, auf einer Matratze von Palmenblättern
und spüre so richtig die Erschöpfung des Tages. Meine Augen fallen
zu und ich denke, jetzt könntest du mehrere Tage durchschlafen, wenn
sie dich nicht um 24 Uhr zur vierten Wachschicht wecken würden. Na
gut, nach der Wache kann ich ja noch ein Weilchen weiterschlafen.
In der Wildnis leben Affen, die einen
besonderen Ruf von sich geben. Wir imitieren ihn, indem wir mit den
Lippen zwischen die aneinandergelegten Handflächen blasen, in denen
sich ein Palmenblatt befindet. „Shit, shit“, das ist der Weckruf
für die Guerilleros um 4.50 Uhr. Nach einer Viertelstunde sind wir
angetreten, das Gepäck auf dem Rücken. Die Diensthabenden
kontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Nachdem wir unsere Ausrüstung
abgesetzt haben gehen wir, um uns den „tinto“ zu holen. „Tinto“
– so nennen wir den Kaffee in Kolumbien. Er ist heiß und hat ein
wunderbares Aroma.
Bis sechs Uhr machen wir Frühsport.
Dann kommt das Frühstück dran: Maisfladen und, wenn vorhanden,
gebratene Eier und Schokolade. Dann, nachdem das Lager in Ordnung
gebracht wurde, treffen wir uns im Lehrkabinett, um die Nachrichten
im Fernsehen zu schauen und darüber zu diskutieren.
Um acht Uhr stehen wir in militärischer
Formation bereit und die Kommandeure der Züge kontrollieren auf den
Millimeter genau, dass wir in Reih und Glied angetreten sind. Dann
wird dem Kompanie-Kommandeur Meldung über die Neuigkeiten der
letzten Nacht und den Zustand seiner Truppe gemacht. Kommandeur Oscar
übernimmt das Kommando und befiehlt: „Kompanie, rührt euch!“
Danach sagt er: „Die Kompanie hat die Aufgabe, politische
Schulungen zu absolvieren und politische Arbeit unter der Bevölkerung
der Region durchzuführen. Zug 1 hat den Auftrag, für Sicherung und
Logistik zu sorgen. Zug 4 begibt sich in das umliegende Gebiet und
besucht die Bevölkerung. Geht von Haus zu Haus, sprecht mit den
Leuten, erkundigt euch nach ihren Problemen und versucht zu helfen,
wenn es möglich ist. Erklärt ihnen die Politik der FARC-EP. Die
Züge 2 und 3 werden einen zweimonatigen Lehrgang absolvieren,
täglich von acht bis 11.30 Uhr und von 13.30 bis 16.30 Uhr.
Studienthemen sind: Die Geschichte Kolumbiens und Lateinamerikas,
Politische Ökonomie, der strategische Plan der FARC-EP,
Kommandostrukturen und gesellschaftliche Organisation.“
Die Lehrtexte sind in den Büchern und
Broschüren, die wir in unserem Marschgepäck mitgenommen haben. Nun
werden sie dem Verantwortlichen übergeben, um die Bibliothek des
Lagers damit auszustatten.
Heute nutzen wir den Tag, um die Waffen
zu reinigen, die Bekleidung herzurichten und alles das wieder in
Ordnung zu bringen, was nach 15 Stunden Marsch Schaden erlitten hat.
Wir nehmen die unterbrochene Lektüre eines Buches wieder auf,
bringen die Unterkünfte auf Vordermann, bauen z.B. einen kleinen
Tisch und vieles andere mehr. Nach dem Mittagessen spielen wir eine
Runde Volleyball.
Ich habe etwas Zeit und besuche meine
Freundin Eliana. Ich treffe sie wie immer im Unterstand für
Kommunikationstechnik, vor einem Computer sitzend, umgeben von
Batterien, elektrischen Kabeln und Antennen. „Hallo, Eliana, wie
geht’s?“ begrüße ich sie.
„Gut, mein Junge. Ach ich bin wieder
dabei mich an dieses Gerät zu gewöhnen, und wünschte, wir würden
den Marsch fortsetzen.“
„Ja“, bemerke ich, „man gewöhnt
sich daran, den ganzen Tag zu laufen und vermisst es, wenn wir nicht
marschieren.“
„Wollen wir vallenatos hören?“
fragt Eliana. (Vallenatos ist eine typische traditionelle
Musikrichtung der Region Valledupar – d.Ü.) „Na klar, schon seit
zwei Tagen habe ich keine Musik mehr gehört“, antworte ich. Als
ich ihr Zelt verlasse, sind die Liedzeilen von Julián Conrado, einem
Liedermacher der Guerilla, zu hören: „... denn ich bin Guerillero,
weil ich den Frieden liebe … weil ich den Frieden liebe...“.
[„Resistencia International“ -
deutschsprachige Ausgabe der FARC-EP, Nummer 05 von September bis
Dezember 2001]