Derzeit finden zwischen der FARC-EP und der Regierung Friedensgespräche
statt, bei der soziale, politische und wirtschaftliche Themen die Agenda
bestimmen, die sonst nur ungenügend in der Öffentlichkeit behandelt werden. Nicht
nur von der Guerilla, auch von Basisorganisationen werden Probleme vorgetragen
und Vorschläge erörtert, die nun einen politischen Rahmen der Bearbeitung
gefunden haben. Kolumbien ist nach Brasilien das bevölkerungsreichste Land
Südamerikas und von den ca. 46 Millionen EinwohnerInnen leben mehr ca. 74% in
Städten oder Ballungsräumen. Allein in Bogotá, mit seinen mehr als 8 Millionen
EinwohnerInnen, leben somit mehr als ein Sechstel aller KolumbianerInnen. Doch
die Lebens- und Wohnbedingungen in den Städten sind für viele Menschen ein
Albtraum, denn adäquater Wohnraum bzw. Unterkünfte fehlen.
Aufgrund des bewaffneten Konflikts, der Menschenrechtsverletzungen und
der Armut gibt es eine starke Binnenmigration in die Städte. Mensch geht von
ca. 5 Millionen Binnenvertriebenen aus, damit hat Kolumbien einen traurigen
zweiten Platz nach dem Sudan inne. Jeden Tag erreichen hunderte neuer
Flüchtlinge die Stadt. Ziel dieser Menschen sind zuerst die marginalen
Siedlungen in den Randgebieten, speziell im Süden der Stadt wie der Ciudad
Bolívar. Im besten Fall kennen sie hier schon Freunde oder Verwandte. In den
marginalen Vierteln der Stadt Bogotá leben mehr als ein Drittel aller
EinwohnerInnen. Dort bauen sie mit den billigsten und nötigsten Materialien ein
Haus oder eine Hütte oder kommen bei Freunden und Verwandten unter. Die
Kriminalität in den Vierteln der Ciudad Bolívar ist sehr hoch. Besonders
organisierte Banden versuchen die Kontrolle des öffentlichen Raumes
untereinander streitig zu machen und den Handel zu kontrollieren. Schwer haben
es die Leute, die sich politisch und sozial engagieren, Missstände aufdecken
und die Politik oder die alltägliche Gewalt kritisieren und sie in ihrem
„Geschäft“ stören.
Nur wenige Häuser besitzen Elektrizität, eine Kanalisation ist nicht
vorhanden, so dass das “Schmutzwasser” in Bächen an den Wegen die Hänge
herunterfließt. Befestigte Straßen oder Wege gibt es nicht, man kann sich
ausmalen, wie es hier zur Regenzeit aussieht, von der Gefährlichkeit der
Erdrutsche ganz zu schweigen. Wasser gibt es nur an wenigen Stellen, welches
von dort in Kanistern geholt werden muss. Eine organisierte Müllabfuhr
existiert nicht. Einige Viertel in der Ciudad Bolívar haben mehr als 40000
Einwohner pro Quadratkilometer (im Vergleich dazu Tokyo mit weniger als 20000
und New York mit weniger als 10000), was noch einmal das beengte Zusammenleben
und das Potential von sozialen Konflikten verdeutlicht. Die informelle Arbeit
ist hier sehr hoch, nur jede fünfte Person hat eine geregelte Arbeit. Die
Verwaltung bzw. der Staat ist hier kaum präsent, so dass Paramilitärs oder
kriminelle Banden in diese Rolle schlüpfen. Die letzten Jahre sind zwar ruhiger
geworden, aber noch vor wenigen Jahren war das Thema der “falsos positivos” allgegenwärtig.
Als “falsos positivos” werden einfache (meist ärmliche) Personen bezeichnet,
die von Paramilitärs oder Armee unter dem Vorwand der Guerilla anzugehören getötet
werden, um anschließend eine Prämie zu kassieren.
Obwohl Bogotá in einigen weltweiten Studien als eine lebenswerte Stadt
bezeichnet wird, so schneidet die Hauptstadt in einer Landesstudie mit 19%
unter dem kolumbianischen Landesdurchschnitt gar nicht so gut ab. Dies hängt
unter anderem damit zusammen, dass das Wachstum der Stadt sehr schnell ist,
sich die marginalen Siedlungen rasch ausbreiten und einige Studien diese Zonen
einfach ausklammern. In Kolumbien haben rund 3,8 Millionen Menschen keinen
Wohnraum. Sie leben auf der Straße, in Abrisshäusern oder bilden Gemeinschaften
in ruhigen Ecken, um sich gegenseitig das Überleben zu sichern. Und diejenigen,
die Wohnraum haben, müssen teilweise mit unzureichenden Bedingungen leben. 31%
teilen sich die Wohnung mit anderen Personen oder Familien. 15% haben keinen
Zugang zu sanitären Dienstleistungen (Toilette). 11% haben keine Möglichkeit zu
kochen und 10% haben keine Möglichkeit sich zu waschen. Die Gründe für das
Fehlen an Wohnraum hängen mit der Gewalt, den Vertreibungen und der Landflucht,
aber auch mit den Preisen für Baustoffe und den Schwierigkeiten der Kreditvergabe
zusammen. Viele Leute haben einfach keine Mittel, sich ein Haus oder eine Hütte
bauen zu können.
Häufig ist es so, dass finanzstarke Konzerne das Land aufkaufen, um
damit Handel treiben zu können. Gerade in einer schnell wachsenden Stadt wie
Bogotá kann sehr viel Profit damit erzielt werden. Aber auch die Preise für die
Baustoffe sind hoch. Wie im Immobilienhandel, findet auch hier eine
Monopolisation statt, so dass die Preise hoch und kaum noch kontrollierbar
sind. Preisabsprachen unter den großen Konzernen und Händlern tun ihr übriges.
Was folgt sind sogenannte Elendsviertel und Behausungen aus einfachen Mitteln
wie Pappe, Holz und Blech, mit der Hoffnung, im Laufe der Zeit den Standard
erhöhen zu können. Generell gilt, je weiter das Haus oder die Behausung vom
Zentrum entfernt ist, desto weniger Zugang zu Dienstleistungen oder Standards,
wie Strom, Wasser, Kanalisation, Ärzten, Schulen usw. gibt es.
Besetzungen von Land und
das Errichten von “illegalen” Hütten oder Häusern gehören zum Alltag. Seit Jahren
gibt es diese Form der “Städtepiraterie”, wo aus anfänglich mehreren Hütten auf
freien Flächen später ganze Viertel und Stadtteile entstehen. Im besten Fall
entwickeln sich in diesen Vierteln Organisationen der Interessenvertretung, die
mit den Landeigentümern und den Verwaltungen der Städte über die Verbesserung
der Lebensbedingungen verhandeln. So soll der Statuts der BewohnerInnen und der
Status des Grund und Bodens legalisiert werden. Diese politische Betätigung ist
aber nicht ganz ungefährlich. In Kolumbien eine kritische Meinung zu haben und
sich mit dem Korruptionsfilz der Verwaltung und Parteien anzulegen kann den Tod
bedeuten. Nach und nach versuchen schließlich die Städte diese Viertel in die
Städtebauplanung und –entwicklung miteinzubeziehen. Aber die finanziellen
Mittel, die politischen Zuständigkeiten und der Wille sind sehr begrenzt. So
sind es einzelne Erfolge, wenn soziale Räume wie Grünanlagen, Schulen und
Ärztehäuser entstehen oder der Zugang zu den notwendigen Standards wie Strom
und Wasser geschaffen werden. Bleibt zu hoffen, dass mit den Friedensgesprächen
und den sozialen Foren die sozialen Probleme wie die der Wohnungsnot, ein
offenes Gehör bei den Verantwortlichen finden.